P. JEAN-SÉBASTIEN CHARRIÈRE: PANORAMA DER LATEINISCHEN SCHRIFT

Das 18 Meter breite «Panorama der lateinischen Schrift» zeigt deren Entwicklung von den ersten Spuren bis in unsere Gegenwart. Das Kunstwerk besteht aus insgesamt 37 Tafeln, die sich in 7 Teilbereiche gliedern. Neben dem künstlerischen und evolutionstheoretischen Aspekt ist das

«Panorama» durchsetzt mit spiritueller Symbolik und christlichen Weisheiten. 

 

Die erste Tafel (vorne rechts in der Kapelle) und die letzte Tafel (vorne links) bilden zusammen das Symbol der Dreieinigkeit dar: «Das Wort kommt aus der Stille und geht in die Stille». Im ersten Bild ist zudem der letzte Buchstabe des phönizischen Alphabets (Taw) dargestellt; und im letzten Bild der erste Buchstabe (Alef). Eine Anspielung darauf, dass jedes Ende zugleich der Anfang von etwas Neuem ist. Zwischen den beiden Tafeln liegt das Geheimnis des Unfassbaren, hier der Chor der Kapelle.

Bild 1: Dreieinigkeit, Taw, «Schema»

Rechts im Bild ist das hebräische Wort «Schema» («Höre») dargestellt: eine Einladung, alles wahrzunehmen, denn alles spricht (Dtn 6,5). Deshalb ist das Wort «Hören» auch das erste Wort der Benediktsregel (RB 1,1).



Bild 2: Johannesprolog

Prolog des Johannesevangeliums in Griechisch nach dem Codex Sinaiticus: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen» (Joh 1,1–4).



Bild 3: Spuren der Natur

Was war zuerst, das Lesen oder das Schreiben? Urmenschen lasen Spuren der Natur und deuteten sie. Nach der Überlieferung hat sich Cang Jie (Erfinder der chinesischen Charaktere) inspiriert von den Spuren der Vögel und den Wolken des Himmels.



Bild 4: Spuren der Menschheit

Oben links: Älteste Zeichen der Menschheit wurden auf einer Muschel in Java gefunden (zirka 500'000 Jahre alt). In der Mitte ist ein Knochen aus Israel dargestellt (120'000 Jahre alt).

Unten: Auf dem sogenannten Ishango-Knochen (Kongo) wurden feine, quer verlaufende Einkerbungen gefunden. Das Alter wird auf rund 22'000 Jahre geschätzt.



Bild 5: Höhlenmalerei

Der Mensch schafft erste «Symbole»: Punkte, Kreise, Linien. Überall auf der Welt werden ähnliche Symbole entdeckt (unten rechts). Die Bedeutung ist bis heute offen. Die ältesten Spuren sind etwa 47'000 Jahre alt.



Bild 6: Zeichen und Tiere

Auf den frühesten bekannten Höhlenmalereien sind meistens Zeichen, Hände und Tiere dargestellt.



Bild 7: Felskunst

Die Höhlen von Lascaux enthalten ungefähr 2'000 Darstellungen, entstanden vor etwa 21'000 Jahren. Dabei handelt es sich vor allem um Säugetiere: Stiere, Pferde, Bisons, Hirsche und andere. Eines der ersten domestizierten Tiere, der Stier, spielt in verschiedenen Kulturen eine wichtige Rolle. Er bildet auch die Basis für den ersten Buchstaben im Alphabet.



Bild 8: Shigir-Moor und Göbekli Tepe

Darstellung der ältesten noch bestehenden Holzskulptur der Welt, gefunden im Shigir-Moor (Russland). Tiersymbole und hieroglyphenartige Kratzer wurden in den Tempeln von Göbekli Tepe (Türkei) angebracht. Sie erzählen uns eine Geschichte, die zirka 12'000 Jahre alt ist.



Bild 9: Petroglyphen

Dargestellt sind Zeichnungen von Gavrinis in der Bretagne (zirka 3'500 v. Chr.). Solche Felsritzzeichnungen finden sich in verschiedenen Kulturen der Welt. Die Formen sind wahrscheinlich von der Bewegung des Wassers inspiriert (Symbole für den «Fluss des Lebens» und die Lebensenergie).



Bild 10: Rechensteine und Piktogramme

Vorläufer des Rechensystems finden sich in den Rechensteinen (links), die als Zählmarken ab dem 9. Jahrtausend v. Chr. benützt wurden. Aus den Bildsymbolen, die teilweise auch heute noch verwendet werden, wie zum Beispiel das Symbol für Wasser (unten links), entwickelten sich zwei Schriftsysteme: Keilschrift und Hieroglyphen. 



Bild 11: Hieroglyphen

Etwa 3'400 v. Chr. entstanden die ersten Hieroglyphen. Zeichnungen auf Felswänden von Al-Khawi (Vögel) gelten als die ältesten Hieroglyphen. Unten im Bild dargestellt sind Täfelchen aus Abydos, eine archäologische Stätte am westlichen Nilufer. 



Bild 12: Monokonsonante Hieroglyphen

Die Hieroglyphenschrift setzt sich aus Lautzeichen (Phonogrammen), Bildzeichen (Ideogrammen) und Deutzeichen (Determinativen) zusammen. Hier dargestellt sind Zeichen aus dem Einkonsonantenalphabet, bei dem jede Hieroglyphe nur für einen Laut steht, ähnlich wie bei unserem Alphabet. In der letzten Spalte sind Symbole für Zahlen abgebildet. 



Bild 13: Protosinaitische Schrift

Diese Schrift gilt als Vorläufer der phönizischen (kanaanäischen) Konsonantenschrift, Grundlage des aramäischen, hebräischen, griechischen und arabischen Alphabetes. Die protosinaitische Schrift entwickelte sich 1'900 bis 1'500 v. Chr. im Gebiet der Sinai-Halbinsel (zwischen Ägypten und Israel). 



Bild 14: Auszug aus Ägypten

Die Darstellung ist eine Anspielung auf den Exodus (zirka 1500/1300 v. Chr.). «JHWH» ist der unvokalisierte Eigenname des Gottes Israels (von rechts nach links zu lesen). Der kreisförmige Text bedeutet «Ich bin der Ich-Bin» – «eh’jeh asher eh’jeh» (Ex 3,14). 



Bild 15: Das erste Alphabet

Im vertikalen Streifen ist das aus 22 Konsonanten bestehende phönizische Alphabet dargestellt (Vokale wurden nicht notiert). Es ist die Weiterentwicklung (und Vereinfachung) der phönizischen Konsonantenschrift. Im linken Bildbereich sind Zahlen dargestellt. 



Bild 16: Die Zehn Gebote

«Ich bin JHWH, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus.» (Ex 20,2 ff; Ex 31,18f). Gott soll die Zehn Gebote mit seinem Finger auf zwei Steintafeln verschriftlicht und sie Mose übergeben haben. 



Bild 17: Griechische und etruskische Schrift

Die Griechen haben das phönizische Alphabet übernommen und weiterentwickelt (ab etwa 800 v. Chr.). Auch Vokale wurden nun notiert. Dargestellt (von links nach rechts) sind je griechische und etruskische Zahlen und Buchstaben (Alphabet). Das etruskische Alphabet hat sich aus dem westgriechischen Alphabet entwickelt. 



Bild 18: Lateinisches Alphabet

Das Bild zeigt die Entwicklung des römischen Alphabetes vom 6. bis 1. Jh. v. Chr. (1. bis 5. Spalte) und die römischen Zahlen (6. Spalte). Die neun ältesten indischen Ziffern entstammen der altindischen «Brahmi-Schrift» (1. Jh. v. chr.; letzte Spalte). Daraus entwickeln sich die arabischen Zahlen 1 bis 9. 



Bild 19: Frührömische Kursive

«Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes (...)» (Psalm 19,2-5). Diese Verse sind in der frührömischen Kursive in lateinischer Sprache geschrieben. Der leuchtende Hintergrund ist eine Anspielung an das «Rot von Pompeji», eine Farbe, die aus der Krapp-Pflanze gewonnen wird.



Bild 20: Inkarnation

Vertikaler Text: «καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο. Und das Wort ist Fleisch geworden» (Joh 1,14). Die goldene Schrift symbolisiert die Feuersäule (Ex 13,20–22), die das Volk Israel auf seiner Wüstenwanderung gelenkt hat. Der blaue Hintergrund ist eine Anspielung auf die Geburt Jesu in der Nacht. Rechts im Bild steht der Name «Jeshua» aus einem Graffiti aus der Zeit Jesu.



Bild 21: Jesus schreibt

Der Bibel zufolge schreibt Gott zweimal mit seinem eigenen Finger. Einmal in Stein (siehe Bild 16) und einmal in Sand (Joh 8,1–11). Ein «Digitus» erinnert an diese Szene. Der Finger weist gleichsam auf den «Titulus Crucis»(INRI). Der Sand-Weg und der Titulus bilden ein Kreuz, Symbol der Hingabe, der vollkommenen Liebe und Versöhnung. Der Satz, über den wir bei diesem Bild meditieren dürfen, ist: «Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig» (2. Kor 3,6).



Bild 22: Nacht der Auferstehung

Das Rad ist wie der Fisch ein Urmotiv der Christen. Vertikal steht «ΙΧΘΥΣ» (Ichthys, griechisch für Fisch). Aus den Anfangsbuchstaben des griechischen Wortes für Fisch lässt sich ein kurzgefasstes Glaubensbekenntnis ableiten: «Iēsoûs Christós Theoû Hyiós Sōtér» (Jesus Christus Gottes Sohn Retter).



Bild 23: Capitalis monumentalis

Die Capitalis monumentalis entstand im 1. Jh. n. Chr. In dieser Zeit erhalten die Buchstaben die sogenannten Serifen (vermutlich aus ästhetischen Gründen). In Verbindung mit der Capitalis entstehen weitere Schriftarten: Rustica, Unziale und Quadrata (unten auf Papyrusstreifen dargestellt).



Bild 24: Spätrömische Kursive

Links dargestellt ist das Glaubensbekenntnis in einer spätrömischen Kursive (4. Jh.). In dieser Zeit wird in Indien die Zahl «0» erfunden (Punkt beziehungsweise Kreis oben rechts im Bild). Das vertikale Flechtwerk (rechts) ist ein Symbol für die Unendlichkeit und erinnert an das irische Mönchtum. Klostergründungen wie Reichenau und St. Gallen beruhen auf dem irischen Mönchtum.



Bild 25: Ikone – eine Bildsprache

«Ausculta inclina aurem cordis tui et pervenies» – «Höre, neige das Ohr Deines Herzens und Du wirst ankommen». Anfang und Ende der Benediktsregel ist hier in merowingischer Schrift dargestellt. Ikonen sprechen zu uns mit Sujets, Formen, Farben, Zahlen und Symbolen. Die hier dargestellte Ikone (Christus Pantokrator) geht ins 6. Jh. zurück, in die Zeit des Lebens des Hl. Benedikts.



Bild 26: Anfänge der Musiknotation

Im 8. Jh. entwickelte sich in europäischen Klöstern eine neue Art der Musikschrift für den gregorianischen Choral (linienlose Neumen). Allmählich wurden Linien hinzugefügt, wie das Beispiel des «Johannes-Hymnus» von Guido von Arezzo zeigt. Unten auf Pergament: Die karolingische Minuskel, eine einfache Schriftart, die sich unter Karl d. Gr. in ganz Europa verbreitete. Ab dem 8. Jh. etabliert sich die Gross- und Kleinschreibung.



Bild 27: Hoch- und Spätmittelalter

Der Formenreichtum bei den Schriften nimmt ab dem 12. Jh. kontinuierlich zu, wie die Beispiele zeigen. Lombarden (Grossschrift; links), Textura und Fraktur (rechts). Die unten dargestellte gotische Kursive und die Bastarda waren als Buchschriften gebräuchlich.



Bild 28: Humanistische Minuskel und Kanzleischrift

Für die römische Capitalis wird eine Kleinschrift entwickelt: die humanistische Minuskel (15. Jh.; links). Die Cancellaresca (Kanzleischrift; rechts) wurde in Italien erschaffen. Unten im Bild ist eine modernere Form der Cancellaresca dargestellt. Die heutige Form der Zahlen geht auf Albrecht Dürer zurück (16. Jh.).



Bild 29: Schrift der Bewegung

Das Bild zeigt die Notation von Tanzchoreografien. Im 17. Jh. gründete Ludwig XIV. (Sonnenkönig) gründete die Académie Royale de Danse. Die aufwändigen Choreografien wurden mit speziellen Notationen festgehalten. Geblieben ist die Beauchamp-Feuillet-Notation. In der gleichen Zeit entstand die Anglaise (englische Schreibschrift), eine «tänzerische» Schriftart (mit der Spitzfeder geschrieben; unten).



Bild 30: Stenografie

Im 19. Jh. entstanden verschiedene Arten von Stenografie-Systemen. Émile Duployé entwickelte ein französisches System (links), Stolze-Schrey ein deutsches (rechts). Mit dieser Methode ist das Vater unser dargestellt. Die «Sütterlin» wurde 1911 zum Erlernen der Schreibschrift an der Schule erfunden.



Bild 31: Hören und Berühren

Zwei besondere Notationssysteme sind das Morsealphabet und die Blindenschrift. Dargestellt sind je Alphabet (oben) und Zahlen (unten) sowie der Anfang des 1. Johannesbriefes im Morsecode beziehungsweise in Blindenschrift: «Was wir gehört haben, was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens» (siehe 1. Joh 1,1–4).



Bild 32: Street Art

Das Wort Graffiti kommt aus dem Italienischen und beschreibt ein «Kratzbild» oder eine in harten Stein geritzte Zeichnung. Sich auszudrücken ist ein Grundbedürfnis des Menschen, was sich bereits in den Höhlenmalereien zeigt. Im Graffiti finden sich verschiedene Elemente, unter anderen «ieoshua» und

«Ephphata» – «Öffne Dich» (in rosa Schrift; Mitte rechts). 



Bild 33: 0 und 1

Das erste bekannte Binärsystem datiert aus dem 3. Jh. v. Chr. Heute beruhen verschiedene Funktionsweisen auf dem Binärsystem: Computersprache, QR-Code, Barcode. «Wer Ohren hat, der höre!» (Mat 11,15) ist hier als Barcode geschrieben. Die Barcode-Striche erinnern an die Einkerbungen auf dem Ishango-Knochen (siehe Bild 4).



Bild 34: Zurück zur Stille

Auf dem dunklen Streifen steht: «Die Stille ist ein Wort und ein Gedanke, die alle Worte und Gedanken zusammenfasst.»



Bild 35: Abstrakte Schrift

Emotion, Kraft und Ausdruck der Buchstaben stehen im Vordergrund der abstrakten Kalligrafie. Die Schrift kommt vom Bild und kehrt zurück zum Bild.



Bild 36: In Stille

Der Hl. Johannes vom Kreuz, bedeutender Mystiker und Dichter aus dem 16. Jh., hat über das Wort Gottes nachgedacht: «Der Vater hat nur ein Wort gesagt, es ist sein Sohn. Er hat es in eine Ewige Stille gesagt. In der Stille hört ihn die Seele.»



Bild 37: Die Alphabete

«Ich bin das A und O» oder in der Muttersprache Jesu: «Ich bin das Alev und Tav» (Off 22,13; links unten). Durch die Schrift können wir die Wahrheit suchen: Mit nur einem zusätzlichen Buchstaben zwischen «Alev» und «Tav» – dem «Mem» (auch Zeichen für das Wasser) – können wir das Wort «emet» (Wahrheit) bilden.


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